Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) und der Brexit

von Marie-Agnes Heine, EMA, Amsterdam

Juni 2019

 

Von London nach Amsterdam


Am 24. Juni 2016, dem Tag nach dem Referendum, in dem die Briten mit knapper Mehrheit für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gestimmt haben, war die Stimmung in der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) gedrückt. Mit diesem Ergebnis hatten die meisten der rund 900 Mitarbeitenden der in London ansässigen Agentur der Europäischen Kommission nicht gerechnet.

 

Einholen der EU-Flaggen im EMA Gebäude in London

Einholen der EU-Flaggen im EMA Gebäude in London © EMA

 

Die EMA arbeitet seit ihrer Gründung im Jahr 1995 in London und hat die Aufgabe, die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit insbesondere von neuartigen Medikamenten und Therapien wissenschaftlich zu bewerten. Auf Grundlage der EMA-Empfehlung entscheidet dann die Kommission, ob den entsprechenden Medikamenten eine Zulassung erteilt wird, die automatisch für alle 28 EU-Mitgliedsstaaten gilt. Die insgesamt sieben Komitees der EMA, die sich aus Experten aller Mitgliedsstaaten zusammensetzen, befassen sich neben der Evaluierung neuer Wirkstoffe und Therapien in der Humanmedizin auch mit der Überwachung der Arzneimittelsicherheit in Europa, sowie mit der Begutachtung von Arzneimitteln für Kinder und seltenen Krankheiten, von neuartigen und pflanzlichen Medikamenten sowie von Tierarzneimitteln. Damit spielt die Agentur zusammen mit den nationalen Zulassungsbehörden und der Europäischen Kommission eine zentrale Rolle bei der Sicherung der öffentlichen Gesundheit in der EU und trägt dazu bei, dass Patienten in Europa ohne Verzögerung Zugang zu qualitativ hochwertigen, wirksamen und sicheren Medikamenten und Therapien erhalten, insbesondere für Krankheiten wie Krebs, Diabetes oder Autoimmunerkrankungen.

 

Im kosmopolitischen London konnten sich nur wenige vorstellen, dass sich die Briten gegen Europa entscheiden würden. Als Großbritannien dann am 29. März 2017 tatsächlich ein formelles Austrittsgesuch gemäß Art 50 des Lissabonner Vertrags stellte, waren viele meiner Kolleginnen und Kollegen aus der EU extrem enttäuscht und fühlten sich plötzlich als Bürger zweiter Klasse in dem Land, das für viele über die Jahre zur zweiten Heimat geworden war.

 

Auch für mich persönlich war die Entscheidung ein Schock. Nach sieben Jahren bei der WHO in Genf war ich im September 2014 als neue Leiterin der Kommunikationsabteilung zur EMA gestoßen und hatte mich längst auf London als meinen zukünftigen Wohnort eingerichtet. Doch die EU hat schnell deutlich gemacht, dass die EMA, unabhängig vom Ausgang der Brexitverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich, das Land verlassen muss, wenn es nicht mehr Teil der Europäischen Union bleiben will. Neben der Europäischen Arzneimittelagentur betraf diese Entscheidung die ebenfalls in London beheimatete Europäische Bankenaufsicht (EBA) und ihre rund 200 Mitarbeitenden. Wir alle mussten uns nun darauf einstellen, in absehbarer Zeit mit Kind und Kegel in ein anderes Land, eine andere Stadt umziehen zu müssen.

 

Schon direkt nach dem Brexit-Referendum hatte die EMA eine Task Force eingerichtet, um die Behörde auf den Austritt Großbritanniens aus der EU vorzubereiten. In unterschiedlichen Arbeitsgruppen wurden operative, regulatorische, rechtliche, und andere Fragen erörtert und über mögliche Lösungen nachgedacht. Ich wurde mit der Leitung einer Arbeitsgruppe zum Thema Kommunikation betraut, die eine Kommunikationsstrategie für den Brexit entwickeln und sich mit den Chancen und Risiken der durch den Brexit verursachten Veränderungen für die EMA und ihre Reputation als eine der international führenden Regulierungsbehörden für Arzneimittel auseinandersetzen sollte.

 

Eine der ersten Aufgaben der Task Force war es, Eckpunkte zu entwickeln, die bei der Auswahl eines neuen Standortes durch den Europäischen Rat behilflich sein könnten. Für die EMA war die Entscheidung über den neuen Sitz eine zentrale Frage. Bei regelmäßigen Mitarbeiterbefragungen zu den möglichen neuen Standorten hatte sich herausgestellt, dass die Agentur beim günstigsten Szenario rund ein Viertel ihrer Belegschaft verlieren würde. Im ungünstigsten Fall würden sich rund zwei Drittel der Angestellten einen neuen Arbeitsplatz suchen. Dann wäre die EMA nicht mehr in der Lage, ihre Aufgaben zu erfüllen und könnte Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit der Arzneimittel in der EU nicht mehr garantieren. Für die Agentur war es daher wichtig, dass der Rat von den Standortkandidaten nicht nur eine gute Verkehrsanbindung und die Sicherstellung eines termingerechten Umzugs forderte, sondern auch geeignete Bildungsinstitutionen sowie gute Lebensbedingungen für Ehepartner und Kinder, denen auch Zugang zum Gesundheitssystem, zur Sozialversicherung und zum Arbeitsmarkt gewährt werden sollte.

 

Das Interesse der Mitgliedsstaaten, der EMA als einer der größten dezentralen EU-Agenturen eine neue Heimat zu geben, war enorm. So gab es beispielsweise die Erwartung, dass die Ansiedlung der Agentur vielleicht auch größere und kleinere Pharma und Biotech-Firmen zu einem Umzug an den neuen Standort bewegen und damit die nationale und lokale Wirtschaft stärken könnte. Zum Ende der Bewerbungsfrist, am 31. Juli 2018, hatten 19 Mitgliedsstaaten eine Bewerbung eingereicht. Auch Deutschland hatte sich mit Bonn unter dem Motto “Closer to Europe” um den Sitz der EMA beworben. Auf einer Sitzung des Rates am 20. November 2019 entschieden sich die 27 verbleibenden EU Mitgliedsstaaten schließlich für Amsterdam als neuen Standort der EMA. Mit dieser entscheidenden Weichenstellung war die lange Zeit der Unsicherheit in der Agentur beendet. Amsterdam hatte sich über die Monate als einer für die Belegschaft weitgehend akzeptabler Standort und damit als Garant für Kontinuität bei der EMA herauskristallisiert und wir konnten uns nun auf die nächsten Schritte konzentrieren.

 

Nach dem Referendum in Großbritannien  mussten wir uns nicht nur mit dem bevorstehenden Umzug auseinandersetzen. Gleichzeitig war auch unsere Arbeitsbelastung durch die operative Vorbereitung des Brexit gestiegen. Es musste entschieden werden, wie die britische Expertise ersetzt und die bislang von britischen Experten und Wissenschaftlern erledigte Arbeit auf andere Mitgliedsstaaten verteilt werden kann. Außerdem musste sich die Agentur auch auf einen möglichen “harten” Brexit vorbereiten, d.h. einen Austritt Großbritanniens ohne Austrittsabkommen und damit ohne Übergangsphase.

 

Nach der Entscheidung für den neuen Sitzstaat, trieb die EMA gemeinsam mit der niederländischen Regierung und den zuständigen lokalen Behörden die Planungen für einen möglichst reibungslosen Umzug der Agentur von London nach Amsterdam voran, der spätestens im März 2019 abgeschlossen sein sollte.  Da ein exakt für die Bedürfnisse der Agentur entworfenes neues Gebäude im Stadtteil Zuidas erst noch fertiggestellt werden musste, sollte die EMA zunächst in Übergangsbüros im Stadtteil Sloterdijk ziehen.

 

Im SPARK-Gebäude befinden sich derzeit übergangsweise die Büros der EMA

Im SPARK-Gebäude befinden sich derzeit übergangsweise die Büros der EMA © EMA

 

Der Umzug einer Behörde mit 900 Angestellten erwies sich als immenser logistischer Aufwand. Um es der Agentur zu ermöglichen, auch während des Umzugs ihre Arbeit im Dienste der öffentlichen Gesundheit ohne Unterbrechung fortsetzen zu können, mussten IT Systeme und Konferenztechnologie termingerecht installiert und der störungsfreie  Ablauf der Sitzungen der für die Arzneimittelbewertung und -sicherheit zuständigen Komitees sichergestellt werden.

 

Ende 2017 waren mehr als 80 Leute bei der EMA für die Vorbereitungen für den Brexit und den Umzug der Agentur abgestellt. Die Agentur konzentrierte sich auf ihre zentralen, mit der Evaluierung von Medikamenten und Arzneimittelsicherheit zusammenhängenden Aufgaben. Viele andere Aktivitäten wurden auf Eis gelegt. Die Erarbeitung bestimmter Richtlinien für die Industrie und die Erneuerung von IT-Systemen wurden verschoben und die freiwillige Veröffentlichung der klinischen Studien, auf denen die EMA-Empfehlungen basieren, wurde vorläufig gestoppt.

 

Der Umzug der Agentur nach Amsterdam stellte uns alle vor große persönliche Entscheidungen: Umziehen oder nicht? Amsterdam oder Umland? Kaufen oder mieten? In unseren Planungen und bei der Suche nach geeigneten Schulen für die Kinder, Arbeitsplätzen für unsere Partner und erschwinglichen Wohnungen wurden wir sowohl von der Agentur als auch von der niederländischen Regierung unterstützt. Um das Personal zu halten und den Umzug zu vereinfachen wurden z.B. die Möglichkeiten für Telearbeit ausgeweitet. Im April 2019 war mehr als die Hälfte der Belegschaft in die Niederlande umgezogen, rund ein Drittel arbeitete zu Hause, entweder in London oder irgendwo anders in der EU. Gleichzeitig wirbt die EMA zurzeit neues Personal an, um die in manchen Bereichen entstandenen Lücken zu füllen. Ich persönlich bin Anfang März nach Amsterdam umgezogen und fühle mich an meinem neuen Wohnort sehr wohl. Allerdings war mein Umzug vergleichsweise einfach, da meine Kinder bereits unabhängig sind.

 

EMA Exekutivdirektor Guido Rasi zusammen mit dem EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit Vytenis Andriukaitis vor dem Baugrundstück

EMA Exekutivdirektor Guido Rasi zusammen mit dem EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit Vytenis Andriukaitis vor dem Baugrundstück © EMA

 

Die EMA hofft, dass sie ab der zweiten Jahreshälfte 2019 Schritt für Schritt auch wieder Aktivitäten aufnehmen kann, die aufgrund der Brexit- und Umzugsplanungen liegengeblieben sind. Zum 25. Geburtstag der EMA, im Januar 2020, haben wir vermutlich mit dem Umzug und vielleicht ja auch mit dem Brexit abgeschlossen und können uns wieder mit ganzer Kraft den vielfältigen Herausforderungen im europäischen Gesundheitssektor widmen. Unser Ziel ist es, auch in Zukunft sicherzustellen, dass  die Patienten überall in Europa die wirksamen, innovativen und sicheren Medikamente bekommen, die sie benötigen.

 


Marie-Agnes Heine, Leiterin der Kommunikationsabteilung der EMAZur Autorin: Marie-Agnes Heine ist ausgebildete Radiojournalistin und Kommunikationsexpertin mit mehr als 25 Jahren internationaler Erfahrung in Journalismus, strategischer Kommunikation, Krisen- und Entwicklungskommunikation, Medienentwicklung und Kampagnen.

Nach 7 Jahren als Reporterin/Redakteurin beim Deutschlandfunk und anderen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland, begann sie als Kommunikationsbeauftragte und Sprecherin für internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen (UN), die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu arbeiten. Sie bildete leitende Mitarbeitende in Risikokommunikation und Medienbeziehungen aus und arbeitete als Kommunikationsexpertin in humanitären Krisen und bei der Bekämpfung von Epidemien.

Seit September 2014 leitet sie die Kommunikationsabteilung der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) mit Sitz zunächst in London und heute in Amsterdam.