75 Jahre UN, bald 45 Jahre VDBIO
ein Beitrag von Franz Baumann
Anlässlich eines Doppeljubiläums – 75 Jahre Vereinte Nationen und 45 Jahre VDBIO – über den Wandel des Multilateralismus nachzudenken, ist eine verlockende Einladung für jemanden, der mehr als drei Jahrzehnte überzeugt im Dienst der Organisation gestanden hat. Danke! Einige unsortierte Überlegungen folgen.
Den Gründern der Vereinten Nationen war klar, dass nach zwei katastrophalen Weltkriegen innerhalb von drei Jahrzehnten die internationale Ordnung neu gestaltet werden musste. Das Entsetzen über die apokalyptische Verwüstung in Hiroshima und Nagasaki durch Atombomben verlieh dem Bestreben eine heute kaum mehr nachvollziehbare Dringlichkeit. Inzwischen ist der Schrecken verblasst. Die menschliche Psyche verdrängt, vergisst und gewöhnt sich schnell.
Weil der Völkerbund nicht Vorbild sein konnte, wurden dessen fehlkonstruierte Teile durch belastbarere ersetzt. Vier bedeutende Innovationen waren:
- Ein einflussreicher Sicherheitsrat mit fünf Vetomächten zur Durchsetzung von Frieden;
- die Universalität. Nahezu alle Staaten der Welt sind Mitglied; ausgetreten ist keiner;
- ein unabhängiger Generalsekretär als institutionalisiertes Weltgewissen und
- ein Netzwerk von Sonderorganisationen, um den diplomatischen Betrieb der Organisation in einer Vielzahl von Themenbereichen konkret zu unterfüttern.
Die Vereinten Nationen sind aus vielerlei Gründen nicht in einem robusten Zustand, weder die „erste“ VN der Mitgliedsstaaten, noch die „zweite“ des Sekretariats.1 Mit dem Anteil der Mitgliedsstaaten an der Misere der Vereinten Nationen habe ich mich unlängst anderswo befasst und werde es hier nicht wiederholen.2 Anzufügen wäre aber zweierlei. Das Prinzip der souveränen Gleichheit der Mitgliedsstaaten hat den Geburtsfehler, dass sich Staaten rhetorisch in Positur werfen können, ohne einen Ernsthaftigkeitsnachweis führen zu müssen. Dazu kommt, dass gar zu viele Mitgliedsstaaten fragil sind3 und wenig zur Lösung globaler Probleme beitragen.
Des Weiteren schwächt es die Vereinten Nationen, dass der Sicherheitsrat verkrustet und gelähmt ist. Zumindest vor dem Regierungswechsel in den USA missbrauchten drei der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder ihre privilegierte Rolle. Anstatt diese wie vorgesehen treuhänderisch im Interesse aller auszuüben, nutzen sie sie zu nationalen Zwecken aus. China, Russland und die USA halten sich seit geraumer Zeit weder an die expliziten Regeln der Charta (Artikel 23), noch an die impliziten Normen, wohingegen weder Großbritannien noch Frankreich seit 1989 von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht haben.4
Der große Wert der Institution, sei es als Friedensstifter und Normsetzer5, als Verband humanitärer Hilfsorganisationen6 und als Denkfabrik7 ist unbestritten, beglaubigt durch viele Nobelpreise.8 Bemerkenswert ist, dass diese Anerkennung durchgehend der zweiten UNO zugesprochen wurde, also weniger den Mitgliedsstaaten als den Sekretariaten und den Leistungen ihrer Repräsentanten.
Dem Generalsekretär kommt in der Architektur der Vereinten Nationen eine besondere Bedeutung zu. Die Gründer der Vereinten Nationen waren weder naiv noch geschichtsblind. Sie erwarteten nicht, dass die in der Arena – von anfangs 51, inzwischen 193 – souveräner Staaten ausgehandelten Kompromisse aus globaler Perspektive optimal sind. Ein beherzter Generalsekretär, unterstützt von einem unabhängigen, professionellen und loyalen Sekretariat, war als die Institutionalisierung des Weltgewissens und des Weltinteresses vorgesehen. Was für ein schwindelerregender Auftrag. Aber auch ein letzthin vernachlässigter. Institution building, eine Kernaufgabe der Vereinten Nationen, bezog sich nie auf das eigene Haus.
Drei Monate vor seinem tragischen Tod hielt Generalsekretär Dag Hammarskjöld in Oxford eine große Rede zu seinem Amtsverständnis und zur zentralen Rolle des Sekretariats in der Architektur der Vereinten Nationen: The International Civil Servant in Law and in Fact.9 Fulminant plädierte er für ein professionelles, unabhängiges und nur dem Generalsekretär verpflichtetes internationales Beamtentum als Grundvoraussetzung der Unabhängigkeit des Sekretariats und der Handlungsfreiheit des Generalsekretärs. Die politische Rolle des Generalsekretärs betonend, drängte er darauf – mit Hinweis auf Charta Artikel 100 (Beeinflussungsverbot) und 105 (Immunität) – die unziemliche politische Einflussnahme wichtiger Mitgliedsländer zu kontern. Es war eine Sternstunde der Vereinten Nationen. Wehmütig erinnert man sich daran, vor allem angesichts der zunehmenden Schwächung der institutionellen Grundprinzipien der Organisation in den vergangenen Jahren.
Um die Unabhängigkeit des Sekretariats zu institutionalisieren, wurde es als Laufbahnorganisation konzipiert.10 Einstellungen sollten durch allgemeine Auswahlverfahren geschehen, Stellen normalerweise intern besetzt werden und Bedienstete mit Aufstiegsmöglichkeiten rechnen können – alles planmäßig von einer zentralen, starken und aktiven Personalabteilung gesteuert. Kofi Annan, eine Paradebeispiel, fing 1962 als P-1 an und wurde 1987 Beigeordneter Generalsekretär sowie Leiter des Office of Personnel Services. Als eine seiner ersten Amtshandlungen verdeutlichte er die Wichtigkeit eines strategischen Personalbüros durch dessen Umbenennung in Office of Human Resources Management. Vor zwei Jahren wurde „Management“ sang- und klanglos wieder fallen gelassen.
Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatten Direktoren ein durchschnittliches Dienstalter von einundzwanzig Jahren, Beamte im höheren Dienst sechzehn.11 Heute bringen es Untergeneralsekretäre und Beigeordnete Generalsekretäre nur noch auf knapp fünf Jahre Erfahrung im Sekretariat, Direktoren (D-2 & D-1) auf 11 und die P-Kategorie auf 7,5 Jahre, mit fallender Tendenz. Das Durchschnittsalter für P-3 Bedienstete ist 44 Jahre, jenes für P-4 49 Jahre, Tendenz zunehmend.12 Auf der P-3/P-4 Ebene überwiegen Zeitverträge, von denen es über 50 Prozent mehr gibt als Dauerverträge (mit ebenfalls zunehmender Tendenz).13 Zurückzuführen ist diese Überalterung, Verunsicherung und Entprofessionalisierung auf die Öffnung des Sekretariats für Außenseiter sowie die Dezentralisierung von Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen.
Der Sündenfall war eine widerstandslos hingenommene Resolution der Generalversammlung, die das internationale Beamtentum regelwidrig aushebelte.14 Die Aufgabe des Prinzips der Laufbahnorganisation veränderte das Sekretariat. Nicht zum Besseren. Beamte auf Lebenszeit, die den Dienst bei den Vereinten Nationen nicht als Job, sondern als Beruf – gar als Berufung – ansehen, sind weniger geworden. Obwohl durchaus noch vorhanden, sind sie infolge der Laufbahnunsicherheit abhängiger geworden und sehen sich gezwungen, über Gebühr viel Zeit mit der Kontaktpflege, vor allem nach oben, und der Revierverteidigung zuzubringen. Durchreisende, ohne besondere Bindung an die Institution, wurden mehr, auch jene, die umweglos von der Delegiertenseite ins Sekretariat überwechseln. Im Sekretariat ist nun der Fall, was in keiner seriösen Organisation denkbar wäre, dass nämlich Einstellungen, Versetzungen und Beförderungen über einen Kamm geschoren und Personalentscheidungen einzelnen Vorgesetzten überlassen werden. Der dadurch erleichterte Zugriff von Mitgliedsstaaten auf das Sekretariat beschleunigt dessen institutionelle Schwächung. Das Gleiche gilt für die Verschlimmbesserung, den Zweijahreshaushalt durch einen jährlichen zu ersetzen.
Zu nennen wäre noch der entopische Rückschritt, dass aus einer strukturierten Organisation mit gegliederter Arbeitsteilung und thematischer Integration eine Ansammlung unkoordinierter Silos mit sich oft überschneidenden Aufgaben wurde. Viele dutzend Untergeneralsekretäre, Beigeordnete Generalsekretäre und sogar Direktoren unterstehen direkt dem Generalsekretär, der unmöglich seiner Weisungs- und Aufsichtspflicht substanziell nachkommen kann.15
Die Relevanz der Vereinten Nationen ist daran zu ermessen, ob diese Fehlentwicklungen als solche erkannt und revidiert werden. Ein zweifellos mühseliges Vorhaben, ist es doch bekanntlich einfacher, das Aquarium in eine Fischsuppe umzuwandeln als den Prozess umzukehren. Ich hoffe, dass sich in nicht allzu ferner Zukunft eine starke Generalsekretärin der Rolle ihres Amtes in der Architektur der Vereinten Nationen besinnt und sie sich beherzt aus der Fragmentierungs- und Bevormundungsfalle befreit.
Was nun könnte der VDBIO tun? Ich habe das ausgespart, um eine Diskussion über die vorgetragene Analyse anzustoßen.
- Wird sie – und das Ideal einer Laufbahnorganisation – überhaupt geteilt?
- Wo ist die Analyse falsch gewichtet, lücken- oder fehlerhaft?
Das Konzept des internationalen Beamtentums im 21. Jahrhundert zu überdenken – möglicherweise in größerem Rahmen wie in der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) – scheint mir ein wichtiger Fokus für den VDBIO. Ein starkes VN-Sekretariat ist ja kein Selbstzweck, sondern wertvolles – zur Zeit leider etwas stumpfes – Instrument zur Unterstützung internationaler Prozesse.
Mir persönlich am Wichtigsten ist die Fußnote Nr. 7 – und hier kann der Verband mit seinem organisationsübergreifenden Netzwerk einen wichtigen Beitrag leisten und den organisationsübergreifenden Austausch fördern.
Auf folgender Webseite haben Sie die Möglichkeit, öffentlich in einen inhaltlichen Austausch zu treten: https://www.vdbio.org/m/forum/index.php
Oder schreiben Sie Ihre Ideen dazu per E-Mail an , wenn Sie sich nicht öffentlich dazu äußern möchten. Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen!
Franz Baumann war bis zu seiner Pensionierung Ende 2015 Beigeordneter Generalsekretär sowie Sonderberater für Umweltfragen und Friedensmissionen bei den UN. Seit 2017 ist er Gastprofessor an der New York University.
1 Inis L. Claude Jr. bezeichnete die versammelten Mitgliedsstaaten als erste UNO, den Generalsekretär und das Sekretariat als zweite (Swords into Plowshares: The Problems and Prospects of International Organization (New York: Random House, 1956)).
Zur „dritten“ UN – NGOs, Medien, Akademiker/-innen, Expert/-innen und anderen – ist ein eben erschienenes Buch aufschlussreich: Tatiana Carayannis & Thomas G. Weiss, The 'Third' United Nations: How a Knowledge Ecology Helps the UN Think (Oxford, Oxford University Press, 2021).
2 ”Will the UN survive to celebrate its 100th Birthday?“ Pairagraph, September 2020; https://pairagraph.com/dialogue/f47ba870e06d4df2b0cccef483592d82
“L’Amérique post-Trump vue du campus – cinq questions à Franz Baumann, Institut de Relations Internationales et Stratégiques (IRIS); 15 décembre 2020; https://www.iris-france.org/152707-lamerique-post-trump-vue-du-campus-cinq-questions-a-franz-baumann/
3 Fund for Peace, Fragile States Index; https://fragilestatesindex.org/analytics/fsi-heat-map/
4 Dag Hammarskjöld Library, Security Council Veto List; https://research.un.org/en/docs/sc/quick
5 Eine gute Übersicht in: Richard Jolly, Louis Emmerij und Thomas G. Weiss, UN Ideas that Changed the World (Bloomington, Indiana University Press, 2009).
Neulichere Errungenschaften sind:
- SDGs: Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development, A/RES/70/1; http://undocs.org/A/RES/70/1
- Paris Agreement; http://unfccc.int/paris_agreement/items/9485.php
- Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration; A/RES/73/195; http://undocs.org/A/RES/73/195
- Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons (TPNW); https://undocs.org/A/CONF.229/2017/8
6 UNICEF, UNHCR, OCHA, UNWRA, WHO, WFP und andere
7 Imponierend ist die Breite, Tiefe, Qualität und Anzahl der aus dem VN System kommenden Analysen, aber leider ist ihre Gesamtwirkung weniger als die Summe der Teile. Weil der Generalsekretär weder seine Integrationsrolle wahrnimmt noch Querverbindungen herstellt, werden kaum Kumulationseffekte erreicht.
Ich beschäftige mich mit der Erderhitzung und finde es wichtig, dass die wichtigen Studien von UNDP, IPCC, UNEP, UNU und United in Science aufeinander Bezug nehmen und sich gegenseitig ergänzen sowie verstärken. Leider ist das größtenteils nicht der Fall und die Berichte stehen eher nebeneinander als aufeinander.
- UNDPs Human Development Report; http://hdr.undp.org/en/2020-report
- Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES); https://ipbes.net/
- Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC); https://www.ipcc.ch/reports/
- UNEP (fünf wichtige Berichte der letzten Monate):
- Making Peace with Nature: A scientific blueprint to tackle the climate, biodiversity and pollution emergencies, 2021; https://www.unep.org/resources/making-peace-nature
- United Nations Environment Programme (UNEP), Food Waste Index Report 2021, March 2021; https://www.unep.org/resources/report/unep-food-waste-index-report-2021
- Adaptation Gap Report; https://www.unep.org/resources/adaptation-gap-report-2020
- Emissions Gap Report 2020; https://www.unep.org/emissions-gap-report-2020
- Production Gap Report; http://productiongap.org/2020report
- United in Science 2020; A multi-organization high-level compilation of the latest climate science information; https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/United_In_Science_2020_8_Sep_FINAL%281%29-compressed.pdf
- UNU; The Global E-waste Monitor 2020: Quantities, flows, and the circular economy potential, 2020, http://ewastemonitor.info/wp-content/uploads/2020/12/GEM_2020_def_dec_2020-1.pdf
Von Mitgliedsländern fordert der Generalsekretär eindringlich und berechtigterweise größere Ambitionen zum Klimaschutz (siehe seine Mitteilung vom 8. Februar 2021 (https://www.un.org/press/en/2021/sgsm20574.doc.htm), aber nicht vom eigenen Apparat. Wiewohl der CEB schon vor vierzehn Jahren beschloss Leading by example: a climate-neutral United Nations (CEB/2007/2, 5.12.2007, Section C; https://undocs.org/CEB/2007/2), ist nur wenig passiert. Der Pension Fund hält nach wie vor Investitionen in der Fossilindustrie, die Ziele des im September 2019 veröffentlichten United Nations Secretariat Climate Action Plan 2020-2030 sind weit von der erforderlichen Klimaneutralität im Jahre 2030 entfernt (https://www.un.org/management/sites/www.un.org.management/files/united-nations-secretariat-climate-action-plan.pdf) und die Implementierung hinkt dem Plan hinterher. CO2 Emissionen werden nicht durch Zertifikate kompensiert.
8 Direkt zu nennen sind: World Food Programme (2020); OPCW (2013); Al Gore & the Intergovernmental Panel on Climate Change (2007); IAEA & Mohamed ElBaradei (2005); United Nations & Kofi Annan (2001); United Nations Peacekeeping Forces (1988); UNHCR (1981 & 1954); ILO (1969); UNICEF (1965); Dag Hammarskjöld (1961); Ralph Bunche (1950); John Boyd Orr (1949).
Spannt man den Bogen weiter, kommen dazu: Martti Ahtissari (2008); Amartya Sen (1998); Richard Stone (1984); Alva Myrdal & Alfonzo Garcia Robles (1982); W. Arthur Lewis (1979); James Meade (1977); Gunnar Myrdal (1974); Wassily Leontief (1973); Jan Tinbergen (1969). https://www.nobelprize.org/prizes/lists/all-nobel-prizes/
9 Rede an der Oxford University, 30. Mai 1961; http://www.un.org/depts/dhl/dag/docs/internationalcivilservant.pdf
10 Report of the Preparatory Commission of the United Nations, London, 23.12.1945 (Chapter VIII, Section 2 (D), paragraphs 47, 59 & 60 and Draft Staff Regulation 14; https://digitallibrary.un.org/record/519440?ln=en
11 Composition of the Secretariat, Report of the Secretary-General, A/52/580, 6.11.1997, paragraph 81; http://www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/52/580
12 Composition of the Secretariat, Report of the Secretary-General, A/75/591, 9.11.2020, table 6, page 67; https://undocs.org/en/A/75/591
13 Composition of the Secretariat, Report of the Secretary-General, A/75/591, 9.11.2020, table 3, page 59; https://undocs.org/en/A/75/591
14 Human Resources Management, Resolution of the General Assembly, A/RES/65/247, 24.12.2010; https://undocs.org/a/RES/65/247
15 Organization of the Secretariat of the United Nations, Secretary-General’s Bulletin, ST/SGB/2015/3, 22.7.2015; https://undocs.org/en/ST/SGB/2015/3