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Ursula_Bassler_CERN

Credits: © 2018 CERN. Photograph: Ordan, Julien
 

"Offen bleiben und mutig sein."

 

Interview mit Ursula Bassler, Präsidentin des CERN Council

Ursula Bassler ist seit Januar 2019 CERN Ratspräsidentin und arbeitet beim französischen nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) im nationalen Institut für Kern- und Teilchenphysik (IN2P3). Nach Abschluss ihrer Doktorarbeit im Jahr 1993 wurde Ursula Bassler beim CNRS eingestellt und arbeitete als Teilchen-Physikerin an Experimenten in Deutschland (HERA-DESY in Hamburg) und den USA (Tevatron-FNAL bei Chicago). 2007 wechselte sie zum französischen Kommissariat für Atomenergie und alternative Energien (CEA), bei dem sie die Abteilung für Teilchenphysik IRFU-SPP leitete (2007-2013). Von 2014 bis 2015 war sie wissenschaftliche Direktorin für Teilchenphysik und Computing am IN2P3 und von 2016 bis Ende 2018 stellvertretende Leiterin des Instituts.

 


 

Gender ist ein Querschnittsthema der Agenda für Nachhaltige Entwicklung der UN. Welche Rolle spielen Genderthemen in Ihrer täglichen Arbeit als Wissenschaftlerin?
Genderthemen sind für uns sehr wichtig. Die Wissenschaft wurde lange als maskuline Domäne angesehen, insbesondere die Physik und die Mathematik. Man möchte aber nicht länger auf die Hälfte der Intelligenz der Menschheit verzichten und versucht verstärkt, Frauen in diesem Bereich zu fördern. Noch immer wählen relativ wenig Frauen Studiengänge und Berufe im Bereich Wissenschaft und Technik, weshalb es – nicht nur am CERN oder beim CNRS, sondern auch in vielen anderen Forschungsinstitutionen – Initiativen für Gender Diversity gibt. Es werden Studien durchgeführt und es wird viel ausprobiert, nicht nur, um Frauen für diese Bereiche zu interessieren, sondern auch, um sie während ihrer Karriere mit dem Ziel zu fördern, mehr Frauen in Führungspositionen zu sehen.

 

Können Sie sich erinnern, was Sie als Kind einmal werden wollten? Konnten Sie diese Träume später verwirklichen? 
Als Kind hat es mich immer beeindruckt, wenn Menschen etwas zum ersten Mal gemacht haben – vor 50 Jahren der erste Mann auf dem Mond! Ich habe auch immer verfolgt, was Frauen zum ersten Mal machen und mir gewünscht, bei irgendwas auch „die Erste“ zu sein. Ich bin auf dem Land in einem kleinen Dorf groß geworden und Fernsehen und Zeitung war ein Zugang zur Welt. Mich haben dort die Intellektuellen und Wissenschaftler immer sehr beeindruckt. So wollte ich auch gerne sein, aber es war für mich eine ganz andere Welt, die unerreichbar schien.
Wissenschaftlich beeinflusst wurde ich von meinem Bruder. Mit 16 dachte ich an eine Lehre als Laborassistentin in der chemischen Industrie in Basel. Aber mein Bruder sagte: „Nein, du musst studieren!“ Nach dem Abitur war dann die Studienwahl aber doch nicht so einfach. Ich hatte immer viele verschiedene Interessen: Musik, Theater, Schreiben und ich konnte mir viel vorstellen, z.B. auch etwas im sozialen oder Umwelt-Bereich zu machen. Schließlich habe ich Physik studiert: Nach einem Jahr Au-Pair in Paris wollte ich in Paris bleiben und dort studieren – da schienen mir Physik und Mathematik einfacher als Geisteswissenschaften auf Französisch. Damals habe ich es bedauert, mich auf ein Fach zu festzulegen und die Vielfältigkeit aufzugeben.
Und mein Kindheitstraum irgendwo die Erste zu sein? Auch wenn es sicher nicht so toll wie eine Mondreise war, hatte ich meine kleinen „erste Frau als...“ – ja, ich konnte meinen Kindheitstraum verwirklichen! Allerdings nicht als CERN Ratspräsidentin: Da gab es vor mir schon eine polnische Kollegin.


Wie sind Sie darangegangen, Ihre Karriere zu gestalten und die Einsatzfelder zu finden, in denen Sie am meisten beitragen konnten? 

In der Physik interessierten mich am meisten die ganz fundamentalen Fragen: Aus was ist Materie gemacht? Wie ist das Universum entstanden? Wie entwickelt es sich? Bereits meine Schulkameradinnen und -kameraden sagten, dass meine Augen anfingen zu leuchten, wenn ich das Wort „Atom“ nur hörte. Nach dem Studium suchte ich dann ein Promotionsthema. Aber war nun Protonenstruktur interessanter als CP Violation oder vielleicht doch was ganz anderes? Ich überlegte mir dann, wo ich arbeiten wollte, in welcher Gruppe, mit welchen Leuten – ein deutscher Doktorand aus einem Pariser Labor hatte mich dann überzeugt, dass es ganz spannend sei, mit ihnen am H1 Experiment in Hamburg zu arbeiten. Als es soweit war, war ich natürlich zuerst ziemlich beeindruckt und auch sehr unsicher. Ich wollte dann vor allem dazu beitragen, die Forschungsarbeit in der Gruppe weiterzubringen, auch wenn es nur kleine Beiträge waren. Ich dachte auch, als Forscherin muss man unbedingt neue Ideen haben, etwas entdecken – in meinem Fall waren das dann leider keine neuen Teilchen! Ich habe neue Methoden vorgeschlagen, neue experimentelle Effekte berücksichtigt und korrigiert, Software entwickelt und Detektoren kalibriert. Eine neue Erfahrung kam, als ich für einen der ersten Physikblogs – den Quantum Diaries – Beiträge schrieb und danach mit einer befreundeten Regisseurin einen Film zum LHC-Start machte. Damals war es der einzige Film, der in Frankreich zu diesem Thema produziert wurde – mit einem bescheidenen Erfolg, aber es hat Spaß gemacht! Mit Managementaufgaben kam dann noch ein ganz anderer Tätigkeitsbereich hinzu. Über mangelnde Vielfalt kann ich mich im Rückblick also wirklich nicht beklagen!
Einen Karriereplan hatte ich aber nicht. Im Nachhinein war es wichtig, Gelegenheiten zu nutzen. Wenn jemand kam und fragte, ob ich dies machen oder jene Verantwortung übernehmen wolle, habe ich „Ja" gesagt. Dabei ging es zuerst um Aufgaben in den Experimenten, Verantwortung für Arbeitsgruppen, und dann vor allem um Komitees, in denen natürlich oft Frauen fehlten, später dann Leitungsfunktionen in Institutionen. Auch wenn ich oft unsicher war, dachte ich mir, wenn die mir das zutrauen, dann mache ich das – ich werde das wohl schon können. Irgendwann wird es dann auch wichtig, „Nein" zu sagen, aber das kommt viel später.

 

Wie würden Sie Ihren eigenen Werdegang beschreiben?

Am Anfang habe ich wahnsinnig viel gearbeitet und war nicht immer effizient. Für mich war Wissenschaft schon fast wie eine Berufung: Wenn ich schon Wissenschaftlerin sein darf, dann muss ich das auch ganz und gar machen, dann muss ich mich von morgens bis abends dafür engagieren. Erst später, vielleicht ließ der jugendliche Enthusiasmus nach, wurde das dann zu viel und es fehlten mir Familie, Freunde… Reisen war natürlich ein Problem, um irgendeiner außerberuflichen Aktivität regelmäßig nachzugehen. Es wurde mir dann wichtig, ein Gleichgewicht zu finden, die Arbeit anders zu organisieren, damit es auch ein Leben außerhalb der Arbeitswelt gibt.

 

Welche Barrieren galt es zu überwinden? Wie haben Sie diese bewältigt? 
Wenn man Frau und dann noch jung ist, muss man beweisen, dass man kompetent ist, aber sich auch Respekt und Anerkennung zu verschaffen, war für mich schwierig. In späteren Jahren, als ich Führungspositionen einnahm, ging es darum, Verantwortung zu übernehmen, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu inspirieren und sich Unterstützung zu suchen, um berufliche Herausforderungen anzugehen und Ziele zu erreichen.

Eine andere große Barriere war aber auch eine psychologische, nämlich die, ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, genügend Selbstvertrauen zu haben, um meinen Platz einzunehmen, ohne ständig zu denken, dass ich noch mehr leisten muss, weil ich eigentlich nichts wert bin. Und dass ich Entscheidungen treffe und zu ihnen stehe.

 

Gab es Menschen, die Sie auf diesem Weg besonders unterstützt haben?

Es gab natürlich Kollegen und Vorgesetzte, die mich unterstützt haben, die mir vertraut haben. Ich habe aber auch Hilfe und Unterstützung von professioneller Seite gesucht. Bei einem typischen „Impostersyndrom“, wenn man denkt, die anderen meinen zwar, man sei gut, aber man glaubt es selbst gar nicht, kann es guttun, professionelle Hilfe zu suchen.

 

Welche Rolle spielte die geografische Mobilität in Ihrer Karriere, und wie haben Sie die damit verbundenen Herausforderungen bewältigt?

Das war eine der großen Schwierigkeiten. Während meiner Zeit am Fermilab in Chicago war ich eine Woche pro Monat in den Vereinigten Staaten. Die erste Woche zurück war ich erschöpft und gejetlagged. Dann blieben zwei Wochen, in denen ich neben der Arbeit auch mal abends ausging und Freunde sah. Das war sehr schwierig für mich. Ich habe mich ein paar Jahre lang voll reingehängt, aber irgendwann musste ich schauen, dass das weniger wird.
Mit viel Mobilität ist es sehr schwierig, eine Familie aufzubauen. Ich hätte natürlich auch in die USA ziehen können, aber das wollte ich nicht. Ich wollte eine Familie und ich wollte sie in Paris. Dann habe ich meinen Mann kennengelernt und erst sehr spät eine Familie gegründet. Er unterstützt mich heute enorm und ermutigt mich: „Mach das ruhig, geh nur.“ Und ich komme nicht in eine leere Wohnung nach Hause. Ich glaube, eines der größten Probleme von Frauen in leitenden Funktionen ist, wie sie beides, Familie und Beruf, vereinbaren können.

 

Ist Ihr Mann derjenige, der Ihnen den Rücken frei hält?

Ja, im Prinzip schon. Er muss in seinem Beruf nicht so viel reisen wie ich und ist dadurch flexibler, aber wir arbeiten beide Vollzeit in anspruchsvollen Berufen. Ich finde es sehr spannend, was in einer Familie passiert, wenn Kinder da sind. Am CNRS überlegen wir gerade, ob es Sinn machen würde, einen obligatorischen Vaterschaftsurlaub einzuführen. Nach der Geburt unserer Tochter war ich sieben Monate lang zu Hause und so übernahm ich – mit Freude – viele Aufgaben ganz automatisch. Viele Muster, die sich in dieser Zeit entwickelt haben, sind aber, als der Arbeitsalltag wieder begann, geblieben und es ist schwierig, aus dieser ungleichen Aufteilung herauszukommen. Nach einer finnischen Studie ist diese ungleiche Aufteilung der Verantwortungen in Bezug auf die Kinder in homosexuellen Beziehungen nicht so extrem wie bei heterosexuellen Elternpaaren und die Karriereknicke sind dann auch nicht so groß. Auch bei mir passiert es, dass ich in Japan bin und meinen Mann daran erinnere, für den nächsten Tag den Turnbeutel unserer Tochter in den Schulranzen zu packen…

 

Können Sie einen Rat geben, wie man Beruf und Privatleben am besten verbindet – trotz der Opfer, die man vielleicht manchmal erbringen muss?

Für mich ist es wichtig, dass ich mir Freiräume schaffe und diese dann auch wirklich frei sind. Wenn Wochenende ist, dann lese ich meine Mails morgens und danach lege ich das Handy weg. Für den Rest der Zeit bin ich dann wirklich zu Hause. Man muss sich aber trotzdem im Klaren darüber sein, dass man einen großen Teil der Erziehung outsourcen muss. Ich bin nicht da, wenn meine Tochter aus der Schule kommt, jemand anders kümmert sich um sie. Wenn ich abends nach Hause komme, ist meine Tochter bereits seit zwei Stunden zurück. Sie erzählt mir dann nicht mehr, was sie in der Schule und den Tag über erlebt hat, es ist bereits zu weit weg für sie. Das muss man akzeptieren können und es ist manchmal hart für mich – und für sie vielleicht auch.

 

Welchen Rat können Sie unseren Mitgliedern und Frauen im Allgemeinen geben, wie man sich beruflich weiterentwickeln kann?

Ich sehe oft bei Frauen, dass sie Angebote, mehr Verantwortung zu übernehmen, ablehnen, weil sie nicht wissen, wie sie diese Verantwortung mit der Familie vereinbaren können. Da müssen Frauen mutiger werden. Sie müssen sich überlegen, wie sie das organisieren können und daran glauben, dass sie das schaffen. Und aktiv Hilfe suchen, z.B. durch Coaching oder psychologische Beratung, um Selbstzweifel und Gewissenskonflikte zu bewältigen. Man muss Prioritäten setzen und Dinge in Anspruch nehmen, die einem das Leben erleichtern. Wir geben mehr Geld für die Kinderbetreuung und für eine Putzhilfe aus als für Reisen oder für Kleidung.

 

Als Physikerin arbeiteten Sie von Anfang an in einer Männerdomäne und auch im CERN Council sitzen noch immer deutlich mehr Männer als Frauen. Wie empfinden Sie diese Zusammenarbeit? 

Ich habe immer gerne mit Männern zusammengearbeitet und hatte ganz sicher einen gewissen Ehrgeiz, in eine Männerdomäne vorzustoßen. Ich komme aus einem Milieu, in dem Frauen in erster Linie heiraten. Dass man studieren geht, war sehr ungewöhnlich. Ich hatte Cousinen, da war an ein Studium gar nicht zu denken. Schon als Teenager empfand ich das als ungerecht und habe meiner Familie lautstark verkündet, dass wir Frauen das gleiche Recht haben zu denken. Die Männerwelt schien interessanter, und ich habe die Zusammenarbeit mit Männern geradezu gesucht. Jungs waren wertvoller, durften mehr machen, aber ich fand, ich habe das Recht, genauso anerkannt zu werden wie sie. Später habe ich dann auch davon profitiert, unter den wenigen Frauen in einer Männerdomäne zu sein, und bin sicher mehr aufgefallen. Es gab nicht viele junge Frauen, die an einer Doktorarbeit in Teilchenphysik arbeiteten, so war ich bekannt wie ein bunter Hund – und das war sicher positiv für mich. 
Bei meiner Einstellung am CNRS,1993, wurden übrigens vier der fünf freien Stellen mit jungen Frauen besetzt, einmalig in der Geschichte unseres Instituts. Das hatten wir – außer unseren Qualitäten – sicher auch der progressiven und wohlwollenden Einstellung der Männer im damaligen Komitee zu verdanken. Wir vier haben übrigens alle beeindruckende Karrieren gemacht.

 

Haben Sie auch negative Erfahrungen gemacht?

Sicher, es gäbe wohl einiges, was wir nach heutigen Maßstäben als unmöglich einschätzen würden. Ich habe vieles auch ausgeblendet, ich bin jemand, der Konflikte scheut. Heute empfinde ich es öfter als ärgerlich, wenn ich nicht gehört wurde. Das sagen auch andere Frauen, dass ihre Beiträge erst ernst genommen werden, wenn sie von einem Mann aufgegriffen werden. Bei mir hat das sicher auch etwas mit Kommunikationsschwierigkeiten und Selbstvertrauen zu tun und ich muss mich ständig bemühen, verständlich und klar zu sein. An solchen Situationen habe ich mich aber selten aufgehalten, sondern eher versucht, die Idee auf eine andere Art durchzubringen. Die Sache an sich war mir immer wichtiger. In wissenschaftlichen Großprojekten ist es extrem wichtig, kollaborativ und konstruktiv zu arbeiten und auch auszubalancieren, wie eine gerechte Anerkennung erreicht werden kann, ohne destruktiv zu sein.

 

Eine letzte Botschaft an unsere Mitglieder? 

Ich glaube, es ist wichtig, offen zu bleiben. Ich sehe oft Frauen, die verbissen versuchen, etwas zu erreichen, und dadurch sehr gestresst wirken. Ich glaube nicht, dass Verbissenheit hilft, im Gegensatz zu Ausdauer. Es ist für mich wichtiger, mit Selbstvertrauen offen und kollegial zu sein. Das stimmt auch mit meinen Werten überein.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Interview: Gaby Bergedorf
(veröffentlicht im Oktober 2019)

 

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