Buchrezension: Als moderne Nomadin durch die Welt. Mein Leben bei den Vereinten Nationen.
“Man trifft sich mindestens zweimal im Leben”, so eine verbreitete Redensart, insbesondere unter Diplomaten, wenn man sich am Ende der Standzeit an einem Dienstposten von den Kolleginnen und Kollegen verabschiedet. Die Autorin und der Rezensent trafen sich mindestens viermal: zu Anfang der 90er Jahre in New York, Mitte der 90er Jahre in Bonn (in den Räumen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), ca. zehn Jahre später in Genf und schließlich in Berlin im dortigen Arbeitskreis des VDBIO. Die Lektüre des Buches “Als moderne Nomadin um die Welt” empfand der Rezensent als eine fünfte Begegnung, im Unterschied zu den vorherigen zwar nur spirituell, aber dafür um so intensiver.
Kerstin Leitner führt ihre Leserinnen und Leser durch dreißig spannende Jahre ihres Berufslebens im Anschluss an ihre 1975 an der FU Berlin abgeschlossene wissenschaftliche Phase. Die Stationen ihrer in kontinuierlich steigender Verantwortung und mit immer breit angelegten Zuständigkeiten voranschreitenden UNDP-Karriere sind Cotonou (Dahomey, heute Benin), Beijing, New York, Lilongwe (Malawi), erneut New York und auch wieder Beijing. Im Jahre 2003 schafft sie den außerhalb jeglicher planbarer Karriereentwicklung liegenden Sprung zur Beigeordneten Generaldirektorin der WHO in Genf. Auch hier wird sie mit sehr vielseitigen (unter dem Arbeitstitel “Macro-economics and Health” tenorierenden) und zu ihrer bisherigen Vita gut passenden Aufgaben konfrontiert, die sie humorvoll zusammenfasst als “...Potpourri an recht verschiedenen Aspekten der menschlichen Gesundheit, aber jeder ... auf seine Weise wichtig und interessant”. In der gesamten Zeitreise vom Dienstantritt in Cotonou 1975 bis zum Dienstende in Genf 2005 steht das Berufliche im Zentrum ihrer Botschaften, so auch die im dritten Lebensabschnitt, zurück in Berlin, von ihr aufgenommenen Aktivitäten, die sie mit wenigen Worten skizziert. Ab und zu gibt sie ihrem Leserkreis auch einen Einblick in das Private, im Positiven wie im Negativen. Im Positiven etwa der Erwerb einer Eigentumswohnung in Manhattan und damit verbundene, zum Glück rasch überwundene Komplikationen, das Anmieten einer zweiten Residenz auf Long Island, um außerhalb Manhattans ausspannen und während der hektischen Arbeitswoche liegengebliebene Vorgänge in Ruhe bearbeiten zu können, oder die Exkursionen am Genfer See; im Negativen z.B. die lebensbedrohliche Erkrankung an Malaria in Malawi, deretwegen sie 1990 um Versetzung nach New York nachsuchte. Und man erfährt selten sogar mal ein Anekdötchen, z.B. das Interesse des US-amerikanischen Nachrichtendienstes CIA an ihr an dem Posten Cotonou oder – hier als Bildmaterial am Ende des Buches – ein Fototermin mit einem kleinen nordostasiatischen Tiger auf dem Schoß.
Kerstin Leitners Buch ist also zunächst eine Autobiografie mit hauptsächlicher Betonung ihres Berufslebens als Bedienstete internationaler Organisationen. Des Weiteren ist es ein mit Engagement auf höchster Stufe geschriebenes Plädoyer zu Sinn und Bedeutung entwicklungspolitischer Zusammenarbeit. Die Autorin stellt an den Anfang des Buches einen “crash course”, der die Leserschaft mit den Kernpunkten der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit konfrontiert. Im Postskriptum wird neben einigen persönlichen Anmerkungen noch einmal Bilanz gezogen (zur Entwicklungspolitik allgemein und zur eigenen Arbeit) und es wird ein Blick in die Zukunft geworfen. Der Autorin ist daran gelegen zu verdeutlichen, welche besondere Rolle dem multilateralen entwicklungspolitischen Engagement der Organisationen des UN-Systems zukommt, nämlich: seine Uneigennützigkeit und sein Streben nach Nachhaltigkeit. Die – in finanzieller Hinsicht weitaus umfangreichere – bilaterale entwicklungspolitische Zusammenarbeit verfolgt ihrer Ansicht nach nicht selten partikuläre politische Interessen der Geberländer. Darüber hinaus hebt sie auch die unterschiedlichen Denkweisen innerhalb des UN-Systems hervor. Hierbei müssen sich IMF und Weltbank einige kritische Bemerkungen gefallen lassen, den Ansatz der Weltbank hält sie für übertrieben stark vom Gedankengut des Neoliberalismus beherrscht. Gegen Mitarbeitende der Bretton-Woods-Institutionen erhebt sie den ziemlich gravierenden Vorwurf von Orthodoxie und Arroganz bei der Durchsetzung des gegen Ende der 80er Jahre beschlossenen “Washingtoner Consensus”, auf dessen Inhalt sie allerdings nicht näher eingeht.
Sich im Einzelnen mit der großen Anzahl der von der Autorin betreuten Projekte am Hauptsitz von UNDP in New York und im Feld zu befassen, würde den Rahmen dieses Beitrags überschreiten. Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass sie durchgängig bei vielen Gelegenheiten immer wieder auf das Grundsätzliche in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit zurückkommt. Ganz nebenbei erfährt die Leserschaft auch Dinge, über die man sich im Allgemeinen wenig Gedanken macht. Wie ist es zu erklären, dass das Spitzenamt bei UNDP die Bezeichnung “Administrator” trägt? Die sonst üblichen Titel für die Nummer 1 einer internationalen Organisation lauten “Secretary-General” (u.a. bei UN, bei zahlreichen UN-Sonderorganisationen, OECD, NATO, INTERPOL, Europarat) oder “Director General” (u.a. bei den großen UN-Sonderorganisationen FAO, ILO, WHO, UNESCO sowie bei IAEA und WTO), “President” bei den multilateralen Banken, “Managing Director” beim IMF, “Executive Director” bei UNEP, UNFPA, UNICEF, WFP, “High Commissioner” beim UNHCR. Die Antwort findet man auf Seite 68. Wäre dem Rezensenten bei einem Einstellungsgespräch diese Frage gestellt worden, hätte er passen müssen.
Als drittes Hauptcharakteristikum des Buches tritt seine Funktion als Orientierungshilfe für Interessenten einer Tätigkeit im Dienste internationaler Organisationen des UN-Systems hervor. Wenn man die Botschaften der Autorin in einem “mission statement” zusammenfassen wollte, so müsste dieses heißen: “Feel encouraged to join the UN family!”. Die von ihr empfundene Faszination des Arbeitens in einem multikulturellen Kontext, und dies speziell in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, wird für die Leserschaft schon bald nach Beginn der Lektüre spürbar und setzt sich fort bis in das Postskriptum. Dabei macht sie sehr deutlich, dass eine solche Berufsentscheidung neben den positiven Elementen auch die Bereitschaft abverlangt, nicht gerade wenige und geringfügige Opfer zu erbringen (die ihr selbst nicht erspart blieben, z.B. von einer tropischen Krankheit ereilt zu werden, beim Ausbruch der SARS-Epidemie in China gegen Ende 2002 “mitten drin” zu sein, Frustration im Dienst zu erleben, auch auf dem Niveau der Gehaltsstufe D-2 und noch höher als Beigeordnete Generaldirektorin). Diesem Spannungsverhältnis der “Pros” and “Cons” im Dienste internationaler Organisationen gibt sie den treffenden Namen “Pull-Push-Faktoren”. Und sie lässt schließlich keinen Zweifel daran, dass eine so glänzende Karriere, wie sie ihr gelungen ist, nur in engen Grenzen planbar und auch nicht kopierbar ist, schon gar nicht unter den heute üblichen Bedingungen der verbreiteten Einstellungspraxis, in der Kurzzeitverträge dominieren.
Das Buch ist in einige Hauptkapitel und zahlreiche, in der Regel kurze Unterkapitel untergliedert. Dies erleichtert die Lektüre in Etappen, wenn man sie sich nicht in einem Rutsch, sondern lieber in Häppchen vornehmen möchte. Darüber hinaus steigert es den Lesegenuss. Rund 70 Seiten werden den Aufenthalten der Autorin in China eingeräumt. Dass dieses Land sie in besonderem Maße beeindruckt hat und dass sie sich dort sehr wohl gefühlt hat, spürt man recht bald und auf Seite 209 sagt sie es dann selbst. Die Bewunderung Chinas und seiner einzigartigen Entwicklung verstellt ihr aber nicht den Blick für kritikwürdige Dinge im Land. Sie spießt beispielsweise die ihrer Beobachtung nach wachsende Korruption auf, deren Bekämpfung überwiegend mit den Instrumenten des Strafrechts und verstärkter Kontrollen erfolgte, an Stelle den systemischen Ursachen (u.a. wegen fiskalischer Defizite) auf den Grund zu gehen. Diese Grundhaltung des Respekts gegenüber dem gastgebenden Land, seiner Geschichte und Kultur, zugleich aber Dinge in Staat und Gesellschaft, die nicht gut laufen, offen und unemotional anzusprechen, hat die Autorin in den Jahrzehnten ihrer Arbeit an sämtlichen Dienstorten konsequent eingenommen. Hierfür verdient sie Anerkennung und Nachahmung.
Auch als Pensionärin hat sich Kerstin Leitner nicht von der UN-Familie verabschiedet. Dies ist erkennbar an ihrer Lehrtätigkeit an der FU Berlin und nicht zuletzt ihren Aktivitäten im VDBIO, u.a. als Autorin im VDBIO-Rundbrief. Die von ihr gegen Ende des Buches gestellte (und erwartungsgemäß positiv beantwortete) Frage, ob sie die Vereinten Nationen vermisse, ist wohl eher rhetorisch gemeint. Vielleicht mag es ihr so ergehen wie vielen anderen Kolleginnen und Kollegen und auch dem Rezensenten, dem ein UN-Urgestein einmal anvertraute: “It is not easy to join the UN, but it is even more difficult to quit – at least in emotional terms”.
Rezension veröffentlicht im März 2021
Zum Verfasser der Rezension:
Wolfgang Münch arbeitete von 1991 bis 1995 bei der Ständigen Vertretung UN New York (Arbeitsschwerpunkte: 5. Ausschuss der Generalversammlung, ACABQ) und war 1995 kurzzeitig Leiter des UN-Referates im Bundesministerium der Finanzen. Von 1996 bis 2005 war er Inspektor in der Gemeinsamen Inspektionseinheit des UN-Systems in Genf und von 2006 bis 2008 bei der Botschaft Nikosia (Wirtschaft und Finanzen, UNFICYP). Seit 2016 ist er im Ruhestand.
Kontakt: wmunch(at)gmx.de